"Race Across The Alps" (RATA) 2001
Eine Hochschaubahn der Gefühle


31 ausgewählte Extremsportler starten in Nauders um 12Uhr Mittags bei Sonnenschein. Gut 15 davon haben die Klasse diese erstmalige Austragung des RATA über 508km nonstop mit mehr als 12.200 Höhenmetern zu gewinnen.
Bei der Anfahrt zum Stilfser Joch ist es mit der wettermäßigen Herrlichkeit vorbei. Weltuntergangsstimmung: ab 2.000 m Seehöhe oberhalb der Baumgrenze, Serpentinen in den steilen Flanken und Geröllhalden des Berges, zuerst Regen und Wind, bis zur Passhöhe auf 2.750m wird daraus ein Szenario aus Graupelschauern, Schneeregen und orkanartigem Sturm. Ich friere wie ein "Lampelschwaf", aber bis oben gilt es auszuhalten.
Passhöhe: 1. Gerrit Glomser, 2. Jörn Schwarzkopf (D), 3. ich, 4. Marko Baloh (Slovenien)...
Die Positionen verschieben sich bereits vor der Abfahrt, weil der eine länger oder kürzer braucht um sich wieder aufzuwärmen und ordentlich "einzupacken" für die nasse, brandgefährliche Abfahrt, 20km bis Bormio.
Bei der Auf- und Abfahrt zum Gavia-Pass (2.650m) fällt der Faktor "Kälte" um ein paar Grade besser aus, sodass es "nur mehr" regnet. Es führt weiter Glomser, 2.Paul Lindner, 3. Marcel Knauss (FL), 4. Schwarzkopf, 5. Ivan Dotto (I), 6. ich.... Wolfgang Fasching und Baloh haben von der Passhöhe Stilfser Joch viel Zeit verloren. Z.B. Der Amerikaner Rick Kent ("Race Across America" - Finisher) liegt bereits über 2 Stunden hinten.
Bei der Anfahrt zum Mortirolo hab ich Gegenwind und kurzfristigen Besuch von Thomas Widhalm. Er schließt zu mir auf, fällt aber gleich wieder zurück weil er eine Pause einschieben muss.
Der Mortirolo gilt als der schwerste Pass der Alpen. Der Scheitelpunkt liegt zwar nur auf 1.890m, allerdings sind die 1.350 Höhenmeter vom Tal innerhalb von nur 10km zu bewältigen. Das entspricht einer durchschnittlichen Steigung von 13,5%. Wobei der Mittelteil mit Rampen von bis zu 22% besonders in die Glieder geht.
Anfangs der Steigung kann ich einen lockeren Tritt halten und mit 39x27 locker an Dotto vorbeiziehen. Meine Kohlenhydrat-Reserven reichen allerdings nicht bis ganz oben, meine Trittfrequenz fällt unter 60, und Dotto, der das Rad gewechselt hat auf eine noch kleinere Übersetzung, zieht an mir vorbei. Am Zenit sehe ich alle
Kontrahenten bis auf Glomser und Lindner die vor mir sind noch bei Beendigung Ihrer Umziehpause. Ich bin weiterhin 6. Die erste Übelkeit überkommt mich bei meiner Nahrungsaufnahme. Diese Riesenmengen, die mein Körper braucht stehen im Widerspruch zur hohen Intensität der Bergauffahrten bei denen das Essen und Trinken einfach nicht mehr möglich ist. Die enge Abfahrt ist glücklicherweise trocken. Am nächsten, relativ leichten Aprica-Pass bekomme ich eine Suppe die den Magen beruhigt. Die lange Abfahrt auf 300m Seehöhe kann ich noch bei ausreichend Tageslicht absolvieren bevor die Nacht hereinbricht.
Jetzt beginnt der längste Anstieg des Rennens, der Bernina-Pass, 2.000 Höhenmeter in einem Stück. Aber jetzt kommt wieder Leben in die Rennsituation, denn ich sehe in der Ferne die Lichter von Begleitfahrzeugen von Rennfahrern vor mir, das gibt natürlich Motivation. Zuerst kämpfe ich mich an den Liechtensteiner Marcel
Knauss heran, ein Trainingskollege vom heurigen "Race Across America"-Sieger Andrea Clavadetscher. Der Italiener Ivan Dotto muss als nächster daran glauben.
2000 war er in Iowa ein sehr unangenehmer Gegner bei der 24-Stunden-Rad-WM, die ich nach hartem Kampf als 2. einen Platz vor ihm beenden konnte. Jetzt bin ich 4. und der Deutsche Jörn Schwarzkopf liegt kurz vor mir. Aber der ist eine wahrlich harte Nuss, ein Kämpfer der Sonderklasse, ein guter Rennfahrer sowieso. Über
viele Kilometer hält er bergauf einen Vorsprung von nur 50m, es ist ein Psychokrieg. Werde ich um einen Kick schneller, wird er es auch, der Abstand bleibt gleich.
Schließlich nehme ich all meine Kraft zusammen und mache einen Zwischenspurt, schließe auf, grüße in freundlich, er retour, und vorbei bin ich. Das ist ein gefährliches Unterfangen, es könnte ein schwerer Rückfall von mir folgen, aber ich spekuliere damit, dass Jörn vorher zusammenbricht nach diesem psychischen
Dämpfer. Doch die nächsten Kilometer sehen anders aus als geplant, er bleibt konstant 100 Meter hinter mir, als ob er nur auf eine Schwäche von mir wartet. Den Gefallen will ich ihm nicht tun. So nehme ich auch bergauf immer wieder 3 Schluck meiner Kohlenhydrate zu mir, immer wieder zwinge ich mich dazu "3 Schluck für
den 3.Platz". Und so gelingt es mir tatsächlich den Vorsprung langsam zu vergrössern, die Passhöhe auf 2.350m zu erreichen, und ich bekomme noch dazu Paul Lindner ins Visier. Meine Pause auf der Passhöhe ist sehr kurz, und schon nach wenigen Kilometern der Abfahrt hole ich "Pauli" ein. Leider kann er meine
Einladung zur Zusammenarbeit bis zum Albulapass nicht annehmen, er ist zu sehr "gschossen". Ich bin nun zweiter, 30 Minuten hinter dem Klasseprofi Glomser, und er hat eine Schwächephase nach der anderen, sodass der Vorsprung schmilzt. Mich umfängt Euphorie "fahr so weiter, dann kannst das RATA sogar gewinnen", rede ich mir ein. Wir sind im Engadin in der Gegend von St.Moritz. Die flache Abfahrt lang mache ich hohes Tempo. Leider muss ich mich alleine gegen den Wind stemmen. Und so passiert es, dass ich mich zwar gut ernähre aber schon am Beginn des Albula-Pass einen Schwächeanfall erleide. Ein Fahrer taucht hinter mir auf, zu meiner völligen Überraschung ist es Marko Baloh der gleich darauf unwiderstehlich an mir vorüberzieht. Mir bleibt nur ein freundlicher Gruss und ein "good luck". Vor 3 Wochen war er ein harter Konkurrent bei der "Silberreiher-Trophy", die ich vor ihm gewinnen konnte. Wir beide hatten uns die Frage gestellt ob die Erholungszeit bis zum RATA reichen würde. Bei ihm scheint es wieder ganz ordentlich zu "rollen", bei mir gerade nicht mehr. Obwohl der Albula nicht sehr steil ist, muss ich ihn durchgehend mit meinem Rettungsring 39x27 fahren, und das mit einer lächerlichen Trittfrequenz. Ich bin am Boden zerstört, vorher noch Gedanken an den Sieg, jetzt eher an eine Aufgabe. Ich bekomme einfach zuwenig Kalorien hinunter, ich kämpfe mit Übelkeit und Kreislauflaufproblemen. Dass mich bis zur Passhöhe nur "Pauli" einholt, wundert mich. Wir wechseln ein paar Worte. Er erzählt mir, dass er Atemprobleme hat, mir ist allerdings klar, dass er einfach "kopfmässig" völlig erschöpft ist. Meine Pause ist wieder kürzer als seine, und so stürze ich mich weiter als dritter in die Abfahrt. Und diese ist ein absoluter Horror, zwar trocken, aber eng, auf sehr schlechtem Asphalt, ruppige 30 Kilometer lang. Jeder Meter dieser Abfahrt tut mir weh. Nicht nur durch die "Steuer- und Haltearbeit" für den Körper, sondern auch für den Kopf, da ich weiß, dass der nächste Pass gleich hoch ist wie der Albula, und ich jeden Meter den es jetzt hinuntergeht wieder hinauffahren muss. Auf 700m Seehöhe beginnt die Steigung zum Flüela-Pass. Zuerst moderat bis Davos. Dotto kommt vorbei, ein kurzer Gruss und weg ist er, keine Chance im Windschatten mitzufahren, der Leistungsunterschied ist zu gross. Plötzlich, aus heiterem Himmel (es ist Nacht und mittlerweile sternenklar) schließt Fasching zu mir auf. Auch ihn hatte ich zu früh abgeschrieben, aber er ist in diesem Metier ein Klasseprofi. Außerdem hat er eine "Scharte" von vor 3 Wochen auszumerzen. Wir unterhalten uns etwas und fahren die flachen Kilometer bis zum wirklichen Anstieg des Flüela gemeinsam. Dort zieht er mir unwiderstehlich davon. Jetzt kommt nicht nur der Vollmond, sondern auch der Tag bricht langsam herein, und ab 1.800m Seehöhe bewegen wir uns in einer baumlosen, gespenstischen Gesteinswüste. Das Betreuerfahrzeug vom "Pauli" schließt zu mir auf, und er selbst grüßt aus dem Fenster. Ich bin ehrlich entsetzt, und es tut mir leid, dass er aufgegeben hat. Ich erinnere mich an das "Race Across America" 1991 als ich auch meine Schwächephasen nicht verkraften konnte und vorschnell das Handtuch warf. Diese Erfahrung muss "Pauli" jetzt machen, morgen wird er sich für seine Aufgabe "in den Hinten beissen", und das nicht nur einmal. Solche Schwächephasen durchzustehen sind die wahren Chancen für eine persönliche Weiterentwicklung. Obwohl es auch Momente gibt wo es richtig ist aufzugeben. So war zB meine Aufgabe beim RAAM 2000 die einzig richtige Entscheidung.
Mühsam kämpfe ich mich hinauf, ich bin zwar ordentlich k.o., von Euphorie keine Spur, aber auch kein Gedanke mehr an Aufgabe. Der 5.Platz ist doch auch ganz gut. Eigentlich wundert es mich keinen Verfolger weit und breit zu sehen, aber die scheinen auch so ihre Probleme zu haben. Die Abfahrt, wieder ins Engadin, ist ein einziger Geschwindigkeitsrausch, bis zu "100 Sachen", da gilt es sich voll zu konzentrieren.
Und schon geht es den nächsten Anstieg hinauf, den Ofenpass. Ich fahre wie eine Maschine, zwar nicht allzu schnell, aber kontinuierlich. Zu meiner völligen Überraschung sehe ich oben einen alten Bekannten, Ivan Dotto, wieder. Er liegt nur mehr 5 Minuten vor mir, mein Killerinstinkt erwacht. Ohne Absteigen fahre ich
über die Passhöhe auf 2.150m, und fahre die Abfahrt am Limit.
Als der Umbrailpass beginnt habe ich innerhalb 500m das letzte "Loch" zu Dotto zugefahren, er ist stehend k.o.. Auf der einen Seite tut er mir leid, auf der anderen Seite will ich nun 4. bleiben. Darum ziehe ich mit einer relativ lockeren Trittfrequenz Kehre für Kehre nach oben. Dotto war schon öfter ein Stehaufmännchen, also muss ich weiterhin auf Druck bleiben. Ich bin selbst verwundert wie gut mir das nach dieser 20stündigen Tortur noch gelingt. Als das Gelände baumfrei wird sehe ich ganz weit oben einen Radfahrer, kann aber nicht glauben, dass das ein Kontrahent von mir sein könnte. Glomser, Baloh und Fasching hatten schon zu viel Vorsprung, und ich zu viele Schwächephasen als dass ich mir noch Chancen ausrechnete einen einzuholen. Aber sicherheitshalber bleibe ich noch auf Druck, man weiß ja nie. Auf über 2.500 m Seehöhe erreicht man den Umbrailpass, und gleichzeitig den Grenzübergang nach Italien und die Strasse die weiter aufs Stilfser Joch führt. Ich quäle mich die Serpentinen durch die Schneewände hinauf. Und plötzlich habe ich die Gewissheit: nur mehr wenige Minuten vor mir sehe ich Fasching - ist er noch zu packen? Ich versuche es, fahre wieder ohne anzuhalten über die Passhöhe und riskiere in der Abfahrt einiges - aber alles geht gut, trotz schlechter Strassen und dichtem Verkehr. Trotzdem kann ich nach 30km Abfahrt nichts von ihm sehen, leider auch nichts von meiner Betreuercrew die im dichten Verkehr steckengeblieben sind. So ziehe ich meine warme Jacke aus, stecke sie mir einfach vorne in die Hose, und streife die lange Hose nach oben, dass meine Waden wenigstens etwas Kühlung durch den Fahrtwind bekommen. Ich muss lächeln wenn ich mir meinen eigenen Anblick jetzt vorstelle: "...der 4. des RATA im ärmellosen Unterhemd, Trägerhose, mit einem Bauch durch die hineingestopfte Jacke, mit Helm...". So nähere ich mich 30km vor dem Ziel dem letzten Pass, dem Reschenpass, nicht sehr steil, aber trotzdem noch einmal 600 Höhenmeter zum "Drüberstreuen". Für alle überraschend sehe ich plötzlich Fasching mit seiner Crew am Strassenrand beim Umziehen. Mit mir hatten sie nicht gerechnet, das war eine Unachtsamkeit. Sofort schwingt er sich wieder aufs Rad, doch mein Vorsprung wird immer größer. Ich habe jetzt nicht nur einen physischen sondern auch psychischen Vorteil. Endlich kommt nun auch meine Crew dahergebraust und ich kann meine "Bekleidungsmängel" während der Fahrt bereinigen. Von dieser neuen Rennsituation sind sie völlig begeistert. Ständig geben sie mir die Daten über den wachsenden Vorsprung durch. Ich hätte nicht geglaubt, dass ich den Reschenpass am Ende noch so schnell hinauffahren könnte, aber ich bin halt jetzt bei meiner "Hochschaubahn der Gefühle" wieder einmal ganz oben angelangt. Und das hält die letzten Kilometer bis ins Ziel. Völlig euphorisiert rasen wir ins Ziel und lassen uns von einer johlenden Menge inmitten von Nauders feiern.
Wir haben durch alle Schwächephasen hindurch an uns geglaubt, und ernten jetzt die Früchte unseres konsequenten Handelns.

Ergebnis:
1. Gerrit Glomser 22 Stunden 33 Minuten
2. Marko Baloh 23 Stunden 15 Minuten
3. Herbert Meneweger 23 Stunden 18 Minuten
4. Wolfgang Fasching 12 Minuten zurück
5. Jörn Schwarzkopf eine weitere Stunde zurück
6. Marcel Knauss
7. Richard Uhlschmied (D)
8. Ivan Dotto
usw.

Ich gratuliere jedem einzelnen Fahrer (17 von 31 haben das Ziel als "Offizielle Finisher" erreicht) zu dieser für Aussenstehende unvorstellbaren Leistung. Mein Danke gebührt meinem Betreuerteam Christiane Unterberger, Dr.Kurt Moosburger und Franz Reinthaler. Sie haben mich auf meiner "Hochschaubahn der Gefühle" nicht nur begleitet und betreut, sondern mir einfach die Sicherheit gegeben, dass alles gut ausgehen würde, egal wann und wie ich ins Ziel komme. Mit dem 3. Platz habe ich Ihnen etwas zurückgeben, das auch sie freut und stolz machen kann. Danke auch an Brigitte Puttinger, die von meiner Crew als Kontrollorgan in ein anders Team gelost wurde und an Herbert Forster, der seinerseits von einem anderen Team in unser Betreuerauto als Kontrolleur hinzukam und tatkräftig mithalf. Danke an meine Frau Christiane, die es schon so lange toleriert, dass ich neben meinem Beruf meinem Hobby "Extremradsport" frönen kann. Ich habe es mit Methoden des "kugus" innerhalb einer Welt von Profis geschafft mich in der Weltspitze zu etablieren ("Race Across America", 24-Stunden-WM Iowa, "Silberreiher-Trophy" und weitere 24-Stunden-Rekorde), das ist mir eine große Genugtuung.
Aber das wichtigste ist, dass ich in meinem System "Körper, Geist und Seele" eine hohe Harmonie erreicht habe, denn das bestimmt die Lebensqualität.

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Sieg auch in Österreich bei Extremradrennen
Sieg bei der Silberreiher-Trophy, 946km in 24 Stunden